Autor: Heiko Pereira Wolf
ORCID: 0009-0004-0014-7616
Veröffentlichung: 07.11.2025
Stand: 07.11.2025
Die Gesellschaft selbst ist zur sicherheitsrelevanten Größe geworden. Polarisierung, Vertrauensverlust und Fragmentierung bestimmen, wie handlungsfähig der Staat in Krisen bleibt. Der Bevölkerungsschutz – wie viele ehrenamtlich getragene Bereiche des Gemeinwesens – lebt von Vertrauen: vom Glauben an Institutionen, vom Verantwortungsgefühl für das Gemeinwesen und vom Willen, füreinander einzustehen.
Die aktuelle Mitte-Studie 2024/25 der Friedrich-Ebert-Stiftung liefert dazu eine eindringliche Diagnose. Sie zeigt: Das demokratische Selbstverständnis der deutschen Gesellschaft steht unter Druck. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Haltungen sind keine Randerscheinung mehr – sie reichen tief in die gesellschaftliche Mitte hinein. Krisen, Konflikte und Kontrollverlust haben Risse im Fundament des Gemeinsinns hinterlassen.
Zugleich gilt: Diese „angespannte Mitte“ ist kein homogener Block, sondern ein Spiegel der Ambivalenzen unserer Zeit. Zwischen Sorge und Solidarität, Rückzug und Engagement, Angst und Hoffnung entscheidet sich, wie tragfähig die soziale Infrastruktur unserer Demokratie bleibt. Wie resilient bleibt eine Gesellschaft, deren Mitte erodiert – und welche Rolle spielt der Bevölkerungsschutz dabei?
Die Mitte-Studie 2024/25 zeichnet das Bild einer verunsicherten Gesellschaft, deren demokratische Substanz unter Druck steht. Kapitel 5 zeigt: Besonders Menschen mit geringer Selbstwirksamkeit und sozialer Unsicherheit verlieren das Vertrauen in Institutionen. Nur 52 Prozent halten die Demokratie noch für funktionsfähig – am stärksten dort, wo sich Menschen vom Fortschritt abgehängt fühlen, unter finanzieller Belastung oder in strukturschwachen Regionen. Vertrauen ist dabei mehr als Stimmung: Es ist die Grundlage kollektiver Handlungsfähigkeit. Wo es versiegt, verliert auch der Bevölkerungsschutz seine Basis – das Zutrauen, dass Kooperation und staatliche Fürsorge wirken.
Zugleich belegt Kapitel 6 eine gefährliche Verschiebung: Autoritäre Denkmuster und die Billigung politischer Gewalt finden auch in der gesellschaftlichen Mitte Zustimmung. Polarisierung wird so zum Sicherheitsrisiko. Wo autoritäres Denken wächst, schwinden Dialogfähigkeit und Empathie – Voraussetzungen gemeinsamer Krisenbewältigung. Auch der Bevölkerungsschutz bleibt davon nicht unberührt: Wenn in Einsatzorganisationen gruppenbezogene Abwertung oder rigide Hierarchien erstarken, leidet ihre Kooperationsfähigkeit im Kern.
Kapitel 8 zeigt zudem, wie eng Demokratievertrauen mit lokaler Lebensqualität verknüpft ist. Wo öffentliche Infrastruktur schwindet – Mobilität, Gesundheitsversorgung, Bildung –, verliert der Staat sein fürsorgliches Gesicht. Vertrauen entsteht nicht durch Appelle, sondern durch erfahrbare Funktionsfähigkeit. Im Bevölkerungsschutz wird sie sichtbar: Seine Präsenz und Zuverlässigkeit wirken als Seismograf dafür, ob Staatlichkeit als nah oder fern erlebt wird.
Ein weiterer Befund betrifft die psychische Erschöpfung der Mitte. Kapitel 9 belegt: Wer überlastet ist, verliert Vertrauen – in sich, in andere, in Institutionen. Ohnmacht ersetzt Engagement, Zynismus Loyalität. Wo Überforderung überwiegt, wird Helfen zur Zumutung, und Engagement bricht weg. Mentale Resilienz ist damit keine Privatangelegenheit, sondern eine sicherheitsrelevante Ressource.
Was die Studie als gesellschaftliche Symptome beschreibt, zeigt sich im Bevölkerungsschutz als institutionelle Realität: Vertrauensverlust, Polarisierung, soziale Ungleichheit und Erschöpfung sind keine Randphänomene – sie entscheiden darüber, wie widerstandsfähig die demokratische Mitte bleibt.
Der Bevölkerungsschutz verkörpert die Verbindung von Staat und Zivilgesellschaft in einer seiner unmittelbarsten Formen. Er ist beides zugleich: Teil öffentlicher Daseinsvorsorge und Ausdruck bürgerschaftlicher Selbstorganisation. Seine Stärke liegt nicht in Technik oder Hierarchie, sondern in einer Ethik geteilter Verantwortung – in der Bereitschaft, für etwas Größeres einzustehen. Dieses Handeln zwischen Pflicht und Freiheit, Solidarität und Selbstwirksamkeit macht ihn zu einer moralischen Infrastruktur der Demokratie.
Doch die Mitte-Studie 2024/25 zeigt, dass diese Balance unter Druck steht. Wo soziale Ungleichheit wächst, Vertrauen in politische Institutionen schwindet und gesellschaftliche Gruppen sich wieder voneinander abgrenzen, wird das ehrenamtliche Geflecht brüchig. Der Bevölkerungsschutz steht damit an einer strategischen Schnittstelle: Er kann gesellschaftliche Spaltungen spiegeln – oder sie überwinden.
Polarisierende Themen wie Migration, Geschlecht, Klima oder Sprache, die laut Kapitel 4 der Studie die gesellschaftliche Mitte spalten, erreichen längst auch Einsatzorganisationen. Die Befunde zu Maskulinismus und Antifeminismus verdeutlichen, dass Geschlechterbilder keine Nebensache sind, sondern Ausdruck bestehender Machtverhältnisse. Eine Organisation, die auf Kameradschaft baut, muss Inklusion aktiv gestalten, um Ausschlüsse zu vermeiden. Vielfalt ist keine moralische Zugabe, sondern eine operative Notwendigkeit: Unterschiedliche Erfahrungen, Perspektiven und Kompetenzen bilden die Grundlage adaptiver Einsatzfähigkeit. Organisationen, die Diversität anerkennen, bleiben lernfähiger, flexibler und krisenrobuster.
Auch die in Kapitel 9 beschriebenen psychischen Belastungen spiegeln sich im Helfen selbst. Wo Solidarität zum moralischen Hochleistungssport wird – immer mehr Aufgaben, immer weniger Schultern – droht sie in Erschöpfung umzuschlagen. Freiwilliges Engagement ist keine selbstverständlich verfügbare Ressource, sondern eine verletzliche soziale Praxis. Sie braucht Anerkennung, Schutzräume und eine politische Kultur, die das Ehrenamt nicht als Lückenbüßer begreift, sondern als Ort demokratischer Selbstorganisation.
So verstanden, wird der Bevölkerungsschutz zum Resonanzraum der Demokratie: Er zeigt, dass Staat und Gesellschaft keine Gegensätze sind, sondern gemeinsam tragende Säulen kollektiver Resilienz – ein Beweis, dass Vertrauen und Verantwortung die wirksamsten Schutzmechanismen einer offenen Demokratie sind.
Die Mitte-Studie 2024/25 zeigt deutlich, dass Bevölkerungsschutz weit mehr ist als technische Gefahrenabwehr. Er ist Teil einer umfassenden Resilienzpolitik der Demokratie – einer Politik, die nicht nur Strukturen schützt, sondern Vertrauen, Dialogfähigkeit und Teilhabe stärkt. Kapitel 5 betont, dass die Stabilität der Demokratie weniger von materiellen Ressourcen als von der Qualität der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft abhängt. Strukturelle Resilienz meint Ausstattung, Ausbildung und Kommunikation – sie schafft Handlungsfähigkeit. Kulturelle Resilienz reicht tiefer: Sie beschreibt die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, Vertrauen zu schenken und staatliches Handeln als legitim zu erleben. Diese Haltung entsteht nicht durch Erlasse, sondern im gemeinsamen Tun – in Ausbildung, Einsatz und Zusammenarbeit.
Gerade hier liegt das strategische Potenzial des Bevölkerungsschutzes. Jede Übung, jede Lagebesprechung, jedes funktionierende Netzwerk verkörpert Demokratie im Vollzug. Staat und Gesellschaft bilden ein kooperatives Sicherheitsgefüge, in dem Vertrauen nicht vorausgesetzt, sondern täglich erzeugt wird. Wo Menschen einander zutrauen, dass sie ihren Beitrag leisten, wird Demokratie praktisch erfahrbar – als gemeinsame Verantwortung statt als abstraktes System.
Doch die Mitte-Studie zeigt auch Risse in dieser Vertrauensarchitektur, etwa in Kapitel 5.2: Nur rund die Hälfte der Befragten hält die Demokratie für funktionsfähig, viele empfinden sie als überfordert oder ungerecht. Diese Distanz schwächt die Handlungsfähigkeit des gesamten Systems – auch im Bevölkerungsschutz. Vertrauen speist sich aus drei Quellen: Verlässlichkeit, Gerechtigkeit und Sinn. Wo eine dieser Säulen erodiert, verliert auch die Einsatzbereitschaft ihren Halt.
Bildung wird hier zum entscheidenden Schutzfaktor. Kapitel 11 beschreibt Schulen als „Rettungsanker der Demokratie“ – Orte, an denen Urteilskraft und Dialogkultur geübt werden. Für den Bevölkerungsschutz gilt Entsprechendes: Ausbildung ist mehr als Technikvermittlung, sie ist Wertearbeit. Wer Verantwortung übernimmt, lernt Demokratie im Tun. Ehrenamtliches Engagement wird so zur praktischen politischen Bildung, in der Kooperation und Urteilskraft zu Kernkompetenzen einer resilienten Gesellschaft werden.
Zugleich mahnen die Befunde in Kapitel 4 der Studie über Maskulinismus und Antifeminismus zur Selbstreflexion. Sprache, Symbole und Rituale in Einsatzorganisationen transportieren Machtverhältnisse. Demokratische Wehrhaftigkeit bedeutet hier nicht Härte, sondern Offenheit – die Bereitschaft, Routinen zu prüfen und Verantwortung zu teilen. Inklusion wird so zur Voraussetzung von Resilienz: Nur wer Vielfalt integriert, bleibt lern- und führungsfähig.
Vertrauen ist damit keine weiche Kategorie, sondern die tragende Sicherheitsarchitektur der Demokratie – eine Infrastruktur, die täglich gepflegt werden muss. Resilienzpolitik heißt, Strukturen zu stärken und Beziehungen zu nähren. Im Bevölkerungsschutz verdichtet sich beides: Er zeigt, dass Sicherheit nicht allein durch Technik entsteht, sondern durch das Vertrauen, dass Menschen füreinander einstehen – im Einsatz wie im Gemeinwesen.
Die Mitte-Studie 2024/25 ist ein Weckruf: Gesellschaftliche Spannungen sind keine äußere Bedrohung, sondern Teil der inneren Sicherheitslage. Wenn Polarisierung zunimmt, gerät auch der Bevölkerungsschutz unter Druck. Strategisch entscheidend ist daher, das Ehrenamt als Ort gesellschaftlicher Stabilisierung zu begreifen. Drei Linien weisen den Weg – sie verbinden wissenschaftliche Erkenntnis mit praktischer Handlungslogik:
Erstens: Anerkennung und Sichtbarkeit. Freiwilliges Engagement ist keine nachrangige Ressource, sondern eine politische Leistung. Wer sich in Krisen engagiert, trägt aktiv zur Stabilität des Gemeinwesens bei. Deshalb braucht das Ehrenamt öffentliche Wertschätzung, Präsenz in der Behördenkommunikation und Ehrungsformate mit Substanz statt Symbolik. Sichtbarkeit schafft Zugehörigkeit – und Zugehörigkeit schafft Bindung.
Zweitens: Bildung und Dialogkultur. Das Ehrenamt ist auch ein Lernort sozialer Kompetenz und demokratischer Kommunikation. Fortbildungen sollten nicht nur Technik, sondern Haltung vermitteln: den Dialog in polarisierten Räumen, den Umgang mit Vielfalt, das Führen durch Vertrauen. Eine reflektierte Führungsausbildung stärkt jene, die Verantwortung tragen – und schützt Organisationen vor dem Rückfall in autoritäre Muster.
Drittens: Mentale und soziale Unterstützung. Helfende brauchen Schutz, bevor sie erschöpfen. Psychologische Sicherheit ist keine Kür, sondern Voraussetzung kollektiver Einsatzfähigkeit. Peer-Support-Strukturen, Supervision, Anerkennungskultur und Zeitbudgets für Regeneration sind keine Nebensache, sondern Teil strategischer Resilienz. Wer sich sicher fühlt, kann auch andere sicher führen.
Diese Linien führen zu einem Leitgedanken: Wer sich schützt, kann andere schützen. Mentale Gesundheit, Resonanz und Zugehörigkeit sind keine „weichen Themen“, sondern Bestandteile strategischer Resilienz.
Ob im Bevölkerungsschutz, im Sport, in der Kultur oder in der sozialen Arbeit – überall dort, wo Menschen freiwillig Verantwortung übernehmen, entstehen ähnliche Dynamiken. Das Ehrenamt insgesamt ist ein Zukunftslabor der Demokratie: Es zeigt im Kleinen, wie Vertrauen wächst, wie Vielfalt handlungsfähig bleibt und wie aus Solidarität Struktur wird.
Die Mitte-Studie 2024/25 zeigt ein Land in Bewegung – verunsichert, polarisiert, zugleich mehrheitlich hilfsbereit und demokratietreu. Diese Ambivalenz ist kein Zeichen von Schwäche, sondern Ausdruck einer lebendigen, streitbaren Gesellschaft. Doch sie verlangt Pflege: institutionell, kulturell und emotional.
Der ehrenamtlich getragene Bevölkerungsschutz – wie viele andere Formen solidarischen Engagements – verkörpert eine der letzten großen Institutionen gelebten Gemeinsinns. Wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen, entsteht Vertrauen – die vielleicht kostbarste Ressource einer offenen Demokratie.
Bevölkerungsschutz kann so zum Resonanzkörper demokratischer Kultur werden: zu einem Raum, in dem Solidarität nicht nur beschworen, sondern praktisch erfahrbar wird. Er erinnert daran, dass staatliche Handlungsfähigkeit und gesellschaftliche Selbstwirksamkeit zwei Seiten derselben Resilienz sind.
In diesem Sinn ist Bevölkerungsschutz weit mehr als Gefahrenabwehr – er ist Demokratieschutz in praktischer Form, eine Schule der Verantwortung in einer angespannten Mitte. Gelingt es, ihn offen, lernfähig und inklusiv zu halten, bleibt die Gesellschaft nicht nur widerstandsfähig, sondern auch empathisch – und damit wirklich wehrhaft.
Denn in all ihren Facetten – vom Bevölkerungsschutz bis zum Vereinsleben, vom organisierten Ehrenamt bis zur direkten Nachbarschaftshilfe – zeigt sich, wie Demokratie lebendig bleibt: als Vertrauen in Menschen, nicht nur in Systeme. Sie bleibt lebendig, solange Menschen einander vertrauen – im Einsatz, im Alltag, im Zweifel.
Zick, A., Küpper, B., Mokros, N., & Eden, M. (Hg.). (2025). Die angespannte Mitte: Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2024/25. Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Franziska Schröter. Bonn: Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH. ISBN 978-3-8012-0706-9.
Pereira Wolf, H. (2025). Gesellschaftliche Resilienz im Stresstest. Ein Essay über Vertrauen, Ehrenamt und die Zukunft des Bevölkerungsschutzes anlässlich der Mitte-Studie 2024/25. Online veröffentlicht am 07.11.2025 unter: https://www.pereirawolf.de/beitrag/2025-11-07-beitrag-1.html [Zugriff: TT.MM.JJJJ].
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