Autor: Heiko Pereira Wolf
ORCID: 0009-0004-0014-7616
Veröffentlichung: 21.07.2025
Stand: 21.07.2025
Krisen verändern nicht nur Situationen. Sie offenbaren, wie Organisationen mit Unvorhergesehenem umgehen – und worauf sie im Moment größter Belastung zurückgreifen können: auf das, was im Alltag aufgebaut wurde. Es ist ein verbreiteter Irrtum zu glauben, die eigentliche Stärke einer Organisation zeige sich erst im Ausnahmezustand. Tatsächlich spiegelt sich in der Krise vor allem das, was im Normalbetrieb angelegt ist – ob tragfähig oder brüchig, ob reaktiv oder vorausschauend, ob technokratisch oder relational.
Im Zentrum einer jüngst veröffentlichten Studie des Soziologen Nicolas Lot steht genau diese Perspektive. Anhand der Analyse eines französischen Traumazentrums, das am Abend der Pariser Terroranschläge 2015 im Einsatz war, zeigt Lot: Extraordinary organizing – kollektive Handlungsfähigkeit unter Extrembedingungen – entfaltet sich nicht im luftleeren Raum. Sie wurzelt in den Rhythmen, Beziehungen und Deutungsmustern des Regelbetriebs. Der Alltag ist kein Gegenpol zur Krise, sondern ihr Resonanzboden. Reaktionskraft entsteht nicht aus dem Nichts, sondern aus eingeübten Abläufen und stabilen Beziehungen. Was in der Krise trägt, ist nicht der Notfallmodus, sondern das, was Menschen zuvor miteinander geteilt, geklärt und erprobt haben.
Wo Alltag und Ausnahme nicht ineinandergreifen, entsteht im Ernstfall kein gemeinsamer Takt.
Diese Einsicht ist für Behörden mit Sonderaufgaben besonders relevant. Gerade das Technische Hilfswerk (THW) als Bundesoberbehörde mit operativem Einsatzauftrag bewegt sich permanent im Zwischenraum: einerseits organisatorisch dem Geschäftsbereich des BMI zugeordnet, andererseits als Teil des nationalen Krisenmanagements mobilisierbar. Im Regelbetrieb dominieren verwaltungsrechtliche Routinen, Haushaltslogiken, Berichtspflichten und Personalvorschriften. In der Krise hingegen übernehmen operative Führungsstäbe, rollenbasierte Lagedynamiken und flexible Netzwerke die Steuerung.
Genau dieser Wechsel zwischen strukturell verschiedenen Organisationsmodi macht das THW zu einem spannenden – aber auch vulnerablen – Fall. Wenn die Alltagslogik nicht mit der Krisenlogik harmoniert, wird aus dem Moduswechsel ein Bruch. Und dieser Bruch kann gefährlich sein: für Reaktionsgeschwindigkeit, Entscheidungsqualität und Vertrauen zwischen Akteur:innen. Umgekehrt eröffnet sich eine strategische Perspektive: Wenn Regelbetrieb und Einsatzsteuerung anschlussfähig organisiert sind, entsteht Resilienz nicht erst im Ernstfall – sondern wird dauerhaft verfügbar.
Der Beitrag ist daher nicht als Kritik an operativen Einsatzleistungen gemeint, sondern als Analyse der strukturellen Voraussetzungen, die Krisenfähigkeit von innen heraus stützen. Er will zeigen: Zwischen Alltag und Alarmstufe liegt kein Vakuum, sondern ein Raum der Gestaltung. Und wer diesen Raum bewusst organisiert, kann nicht nur effizient handeln – sondern auch demokratisch verantwortet führen.
Das Technische Hilfswerk ist eine Organisation in paradoxaler Spannung: Es ist Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern und zugleich operative Einsatzorganisation im deutschen und europäischen Bevölkerungsschutz. Diese Doppelstellung ist kein Konstruktionsfehler, sondern ein bewusst gewähltes Prinzip. Sie erlaubt es, behördliche Verlässlichkeit mit einsatzbezogener Flexibilität zu verbinden. Doch dieser Vorteil bringt Risiken mit sich – vor allem dann, wenn beide Seiten sich voneinander entfremden oder strukturell entkoppeln.
Im Verwaltungsalltag unterliegt das THW den rechtlichen, haushaltsmäßigen und hierarchischen Logiken einer Bundesbehörde: Es gelten Fachvorgaben, Rechtsvorschriften, Zuständigkeitsgrenzen und das Primat des Weisungsrechts. Im Krisenmodus hingegen übernehmen rollenspezifische Führungsstrukturen, Lagedynamiken und flexible Netzwerke die Steuerung. Statt Zuständigkeiten stehen dann Verantwortung, Wirkung und einsatzorientierte Kooperation im Mittelpunkt. Das eine verlangt Absicherung, das andere Entscheidung. Das eine setzt auf Kontrolle, das andere auf Vertrauen.
Diese Spannung ist nicht ungewöhnlich – im THW jedoch besonders ausgeprägt. Denn es unterliegt zugleich dem disziplinierenden Verwaltungsrecht und der dynamischen Einsatzlogik. Diese Parallelität erzeugt strukturellen Deutungsdruck. Anders als klassische Einsatzorganisationen wie Feuerwehr oder Polizei ist das THW ein technisch spezialisiertes Ehrenamtssystem mit hauptamtlicher Infrastruktur. Während rund 80.000 Ehrenamtliche die operative Basis bilden, verantwortet das Hauptamt mit etwa 2.000 Beschäftigten Planung, Steuerung, Ausstattung, Ausbildung und Koordination. Diese Struktur führt zu einer doppelten Fragmentierung: zwischen Haupt- und Ehrenamt – und innerhalb des Hauptamts selbst.
Theoretisch gesprochen handelt es sich um eine Organisation mit funktional differenzierten Subsystemen, die nach eigenen Rationalitäten operieren. Der Soziologe Niklas Luhmann würde von „strukturell gekoppelten Systemen mit je eigener Komplexitätsbewältigung“ sprechen. Die Verwaltungsstruktur folgt Programmen und Entscheidungen, das Einsatzsystem reagiert auf Lage und Führungsrhythmen. Beide Systeme kommunizieren – aber nicht nach denselben Regeln. Daraus ergibt sich nicht nur die Frage nach dem Wechsel zwischen ihnen, sondern auch nach der Vermittlung.
Diese strukturelle Doppelrolle wird bislang kaum systematisch auf Dienstpostenebene abgebildet. Im Zentrum der Personalplanung stehen klassisch-administrative Rollenprofile – etwa im Personalwesen, Haushaltsvollzug oder Ausbildungsbetrieb. Zwar ist in Stellenausschreibungen meist eine Mitwirkung im Krisenstab vorgesehen, doch erscheint sie als Zusatz – nicht als konstitutiver Bestandteil des Profils.
Struktur trägt nur dann, wenn sie Bewegung nicht behindert, sondern ermöglicht.
Damit bleibt der Ausnahmefall – der doch die institutionelle Daseinsberechtigung des THW begründet – strukturell randständig. Wer eine krisenfähige Behörde will, muss die Krisenrolle nicht nur erwähnen, sondern zum festen Bestandteil jedes Dienstpostens machen.
An dieser Stelle wird das Konzept von Lot anschlussfähig: Die von ihm beschriebenen artikulierenden Praktiken – alltagsverankerte Handlungen, die normales und außergewöhnliches Organisieren verbinden – sind für Organisationen wie das THW besonders relevant. Denn hier entscheidet sich, ob aus struktureller Differenz produktive Spannung oder lähmende Entkopplung wird.
Solche Praktiken entstehen nicht automatisch. Sie müssen bewusst eingerichtet, gepflegt und weiterentwickelt werden. Genau hier liegt eine strategische Herausforderung: Ist das Hauptamt des THW in der Lage, seine Alltagsstruktur so zu gestalten, dass sie den Krisenmodus nicht stört, sondern vorbereitet? Gibt es institutionelle Übergänge, gemeinsame Rollenvorstellungen, geteilte Deutungsmuster und Vertrauen – nicht nur interpersonal, sondern strukturell verankert?
Um diesen Fragen näherzukommen, lohnt ein Blick auf das, was das THW über sich selbst erfahren hat: den Abschlussbericht zur THW-Kultur. In ihm verdichten sich Stimmen, Erfahrungen und Wahrnehmungen der Mitarbeitenden – und sie werfen ein aufschlussreiches Licht auf die Frage, ob und wie Struktur, Alltag und Führungsverhalten die organisationale Resilienz des THW tatsächlich stärken.
Die empirische Studie von Nicolas Lot stellt eine zentrale Annahme klassischer Krisenforschung infrage: dass außergewöhnliche Organisationen sich im Ausnahmezustand neu erfinden. Stattdessen zeigt er am Beispiel eines Pariser Traumazentrums, wie selbst extremste Lagen – etwa die Terroranschläge vom 13. November 2015 – aus dem gelebten Alltag der Organisation heraus bewältigt wurden. Der Schlüssel lag nicht in Sonderplänen, sondern in eingeübter Zusammenarbeit, geteilter Verantwortung, institutionalisierter Reflexion und stabilen Beziehungen.
Lots Studie macht deutlich: Krisenhandeln wurzelt im Alltag – wenn dort die richtigen Praktiken gepflegt werden. Für das THW stellt sich die Frage, ob es über solche Verbindungen zwischen Routine und Ausnahmezustand verfügt – und wie tragfähig diese sind. Denn kollektives Handeln in der Krise entsteht dort, wo im Alltag strukturierte, dialogische und vertrauensbasierte Routinen bestehen. Lot nennt sie „artikulierende Praktiken“. Sie sind nicht spektakulär, sondern unscheinbar: regelmäßige Briefings, reflektierende Meetings, rollenklare Prozesse, Zusammenarbeit über Hierarchiegrenzen hinweg.
Krisen verändern nicht, was eine Organisation ist – sie zeigen, was sie im Alltag schon war.
Für Organisationen wie das THW, die sich zwischen Normalbetrieb und Einsatzdynamik bewegen, ist diese Perspektive hochrelevant. Denn auch hier entscheidet sich: Wird das Außergewöhnliche aus dem Gewöhnlichen hervorgebracht – oder blockiert? Lot unterscheidet drei Praktikentypen, die den Übergang zwischen Alltags- und Krisenmodus ermöglichen:
Sie strukturieren jene wiederkehrenden Abläufe, Rollen und Muster, die den Handlungsspielraum im Alltag prägen – und damit auch die Reaktionsfähigkeit im Ernstfall. In Lots Fallstudie wurden etablierte Versorgungsroutinen nicht verworfen, sondern unter Druck angepasst und skaliert. Die Handlungsfähigkeit beruhte nicht auf Improvisation, sondern auf Mustern, die vorher gelebt, reflektiert und verankert wurden.
Für das THW stellt sich die Frage, ob einsatzrelevante Rollen im Hauptamt tatsächlich im Alltag präsent sind – oder bloß als abstrakte Funktionszuschreibungen existieren. Übernehmen potenzielle Lagenführer:innen auch im Normalbetrieb Verantwortung, kennen sich gegenseitig, reflektieren Zuständigkeiten, stimmen sich ab?
Denn was im Plan steht, ersetzt nicht, was im Körper verankert ist. Rollen, die nur auf dem Papier existieren, schaffen keine Handlungssicherheit – erst recht nicht unter Zeitdruck. Reaktionsfähigkeit entsteht, wenn Zuständigkeiten geübt, Entscheidungswege erprobt und Reflexion zur Routine wird. Solche Praktiken sind nicht spontan herstellbar – sie müssen Alltag sein.
Sie gestalten institutionelle Räume für Beteiligung, Kommunikation und Sinnstiftung. Lot zeigt, wie Teamsitzungen mit offenem Diskurs, transparente Entscheidungen und Feedbackkultur im Alltag die Grundlage für Orientierung in der Krise legen.
Auch im THW stellt sich die Frage: Wird Führung als dialogische Praxis erlebt – oder primär als vertikale Steuerung? Gibt es Formate, in denen Mitarbeitende mitdenken, mitdeuten und mitgestalten dürfen? Oder werden Deutungsrahmen, Ziele und Prioritäten ausschließlich top-down gesetzt?
Wer auf Mitverantwortung in der Krise angewiesen ist, darf Beteiligung im Alltag nicht marginalisieren. Reflexive Führung entsteht dort, wo Diskurs Normalität ist – nicht Ausnahme. Wer im Regelbetrieb nicht gehört wird, bleibt im Ausnahmefall stumm. Manageriale Praktiken sind daher keine Kür, sondern Fundament einer resilienten Verwaltungskultur.
Sie wirken leise – und sind doch entscheidend: Vertrauen, informelle Unterstützung, geteilte Verantwortung, Anerkennung. Sie entstehen nicht durch Vorschrift, sondern in Begegnung – in Gesten, Blicken, Verlässlichkeiten. Lot zeigt eindrucksvoll, wie solche Praktiken in der Krise tragen: spontane Hilfe, geteilte Pausen, stille Verantwortung, emotionale Verarbeitung.
Für das THW stellt sich die Frage: Werden solche Beziehungen ermöglicht – oder verhindert? Gibt es Räume jenseits der Funktion, in denen Unsicherheiten geteilt, Rat eingeholt, Belastungen sichtbar werden dürfen? Oder bleibt für Resonanz kein Raum im verdichteten Betrieb?
Vertrauen entsteht durch Beziehung. Und Beziehung braucht Sichtbarkeit, Zeit, Anerkennung. Gerade in Behördenkontexten wird das oft unterschätzt. Doch ohne diese Resonanz geht kollektive Handlungskraft verloren – spätestens in der Krise wird es spürbar.
Diese drei Achsen – organisatorisch, managerial, relational – erlauben eine präzise Diagnose: Entsteht aus dem Alltag heraus kollektive Reaktionsfähigkeit – oder nicht? Lot beschreibt ein Krankenhaus, das trotz Hierarchie auf Mitverantwortung baut. Das THW hingegen zeigt laut Kulturbericht vielerorts ein anderes Bild: Kollegialität als Selbstbild, nicht immer als Praxis.
An dieser Stelle wird die Theorie des Soziologen Hartmut Rosa anschlussfähig: Resonanz ist Beziehung, nicht Gefühl – sie braucht institutionelle Ermöglichung. Wo Sprache, Zeit und Vertrauen fehlen, bleibt nur Verstummen. Lot zeigt: Resonanz entsteht, wo Organisationen hören, sprechen, anerkennen – und Verantwortung teilen.
Für das THW heißt das: Wenn Alltag im Hauptamt nicht strukturell, relational und reflexiv resonanzfähig gestaltet ist, entstehen keine Brücken – sondern Brüche. Die folgenden Kapitel zeigen: Einige dieser Brüche sind bereits da. Es ist Zeit, sie ernst zu nehmen.
Wie ist der Alltag im Hauptamt des THW strukturiert? Welche Kultur prägt das Miteinander – und was sagt das über die Fähigkeit aus, im Ernstfall kollektiv zu handeln? Antworten liefert der THW-Kulturbericht, der 2021 auf Grundlage einer umfassenden, partizipativen Erhebung entstand. Hunderte Beiträge aus allen Bereichen verdichten sich darin zu einem repräsentativen Stimmungsbild. Besonders aufschlussreich: der Blick auf die Hauptamtlichen – jene, die den Verwaltungsalltag des THW tragen.
Diese Replik führt keine eigene Primärforschung durch, stützt sich aber auf zwei empirisch fundierte Quellen: Lots qualitative Analyse und den THW-Kulturbericht. Beide ermöglichen eine fundierte Reflexion über Praxis und Resilienz im Alltag des THW.
Der Kulturbericht beschreibt ein Hauptamt, das vielerorts von struktureller Enge, formeller Kommunikation und dominanter Statuslogik geprägt ist. Gute Führung und kollegiales Miteinander existieren punktuell – doch es fehlt an systematischem Dialog, institutionalisierter Anerkennung und gemeinsamer Reflexion.
Zahlreiche Rückmeldungen zeichnen ein Bild hierarchischer, kontrollorientierter Führung: Entscheidungen fallen „von oben“, Kommunikation ist einseitig, Feedback unerwünscht. Formale Rollen dominieren gegenüber fachlicher oder relationaler Kompetenz. Das Ergebnis: Distanz, Intransparenz, Verunsicherung.
Wer den Dienstweg kennt, kennt nicht automatisch den Weg zur Lösung.
Hier zeigt sich, was Hartmut Rosa als „Resonanzverweigerung“ beschreibt: eine strukturelle Unfähigkeit zur dialogischen Beziehung. Wo Rückkopplung weder gewollt noch vorgesehen ist, bleibt Selbstwirksamkeit aus – ebenso wie das Gefühl, gehört und gebraucht zu werden.
Anerkennung ist im Hauptamt häufig nicht an Leistung oder Engagement gebunden, sondern an Stellung, Alter oder Zugehörigkeit. Diese symbolischen Hierarchien erzeugen Unsicherheit – und verhindern Entwicklung. Eine Kultur des Lernens, des Feedbacks, des Wachsens bleibt aus.
Wer sich einen Platz erst verdienen muss, steht selten dort, wo man gebraucht wird.
Der Soziologe Pierre Bourdieu würde darin eine Form symbolischer Gewalt erkennen: Nicht der offene Konflikt, sondern unausgesprochene Normen erzeugen Konformitätsdruck. Erwartungen werden nicht verhandelt, sondern vorausgesetzt – Kritik erscheint riskant, Veränderung unwahrscheinlich.
Die Bedeutung des Ehrenamts ist unbestritten. Diese Analyse richtet sich nicht gegen dessen Kultur, sondern fragt nach der Rolle des Hauptamts als strukturelle Stütze kollektiver Krisenfähigkeit.
Der Kulturbericht beschreibt eine kulturelle Kluft: Während Ehrenamtlichkeit von Verantwortung, Selbstorganisation und Kollegialität geprägt ist, erleben viele Hauptamtliche ihren Alltag als formalisiert, reglementiert, wenig partizipativ. Entfremdung entsteht – nicht durch Streit, sondern durch stille Irritation.
Wir arbeiten für dasselbe Ziel – aber sprechen nicht dieselbe Sprache.
Diese Fragmentierung hat Folgen. Im Einsatzfall drohen Koordinationsverluste, wenn Vertrauen, Lageverständnis oder Prioritäten nicht geteilt werden. Besonders brisant wird es, wenn nicht nur Menschen, sondern Modi unverbunden bleiben: Verwaltung und Einsatz müssen im Krisenfall zusammenwirken – schnell, vertraut, strukturiert. Ohne gemeinsame Erfahrungsräume im Alltag gelingt das nicht.
Der Bericht benennt klar: Es fehlen Räume für gemeinsame Auswertung, kritische Auseinandersetzung, kollektive Deutung. Entscheidungen sind intransparent, Prozesse werden nicht reflektiert, Irritationen nicht bearbeitet. Kritik wird als Störung gelesen – nicht als Beitrag.
Wo nicht reflektiert wird, entsteht keine Erfahrung – sondern wächst der blinde Fleck.
Ein Defizit managerieller Praktiken im Sinne Lots. Leitung erscheint nicht als Ort des Dialogs, sondern der Stabilitätssicherung. Die Politologin Barbara Kellerman mahnt: Führung ist Beziehung, Verantwortung, Aushandlung – nicht bloß Position. Wo diese Praxis fehlt, verkümmert Führung zur Rolle.
Der Kulturbericht zeigt: Das Hauptamt ist im Alltag nicht systematisch auf kollektive Handlungsfähigkeit vorbereitet. Es fehlen verbindende Routinen – jene stillen, aber tragfähigen Praktiken, die Normalbetrieb und Einsatz verbinden. Lot nennt sie artikulierende Praktiken: Kommunikationsformen, Rollenklarheit, Abstimmungen, die Alltag und Ausnahmelage verknüpfen.
Viele dieser Praktiken wurden im THW bereits erprobt – in Kulturkreisen, Autorenteams, Facharbeitsgemeinschaften. Es braucht keinen Neuanfang, sondern strukturelle Verstetigung.
Verwaltung, die nur verwaltet, wird nicht führen – auch nicht im Ausnahmezustand.
Die beschriebenen Schwächen deuten auf ein systemisches Problem: Krisenfähigkeit hängt von der Qualität alltäglicher Beziehungen und Entscheidungsprozesse ab. Damit rückt ein Konzept ins Zentrum, das in Verwaltungskontexten bislang selten genutzt wurde: Resonanz. Es stellt die Frage: Wie gelingt es einer Organisation, Resonanz nicht nur punktuell zu erleben – sondern dauerhaft zu ermöglichen?
Organisationen leben nicht nur von Struktur und Kompetenz, sondern auch von Beziehung. In der Krise zählt nicht allein, wer zuständig ist – sondern ob Vertrauen besteht, ob Verständigung gelingt, ob Menschen gemeinsam deuten und handeln können. Dafür braucht es, was Hartmut Rosa als Resonanz beschreibt: eine Weltbeziehung, die nicht reaktiv bleibt, sondern antwortet – in Wahrnehmung, Anerkennung und Selbstwirksamkeit.
Eine krisenfeste Verwaltung ist nicht perfekt – sondern hörfähig.
Theoretische Konzepte dienen hier nicht der akademischen Distinktion, sondern der sprachlichen Präzision: Sie benennen, was im Alltag oft diffus bleibt. Resonanz, Vertrauen und kollektive Wirksamkeit sind nicht bloß soziale Stimmungen – sie sind strukturierte Möglichkeitsräume. Und sie müssen gestaltet werden.
In Verwaltungen klingt das zunächst ungewohnt. Doch wer genau hinsieht, erkennt: Resonanz ist keine weiche Zutat – sie ist eine harte Ressource. Sie entscheidet, ob Menschen zuhören, sich einbringen, Verantwortung übernehmen – oder innerlich kündigen und den Dienstweg einhalten, ohne sich gemeint zu fühlen.
Resonanz ist dort möglich, wo Menschen nicht als Rollen, sondern als Subjekte angesprochen werden.
Lots Studie zeigt: Resonanz entsteht nicht im Ausnahmezustand, sondern im Alltag – durch eingeübte Gespräche, gemeinsame Deutung, partizipative Entscheidungsprozesse. In der untersuchten Klinik waren es regelmäßige Briefings, offene Diskurse und gelebte Wertschätzung, die Orientierung und Vertrauen ermöglichten. Nicht Planung trug – Beziehung trug.
Der THW-Kulturbericht zeichnet ein anderes Bild: Sprachlosigkeit über Entscheidungen, geringe Rückkopplung in Führungsbeziehungen, eine stille Kultur des Stillhaltens. Führung erscheint als Durchsetzung, nicht als Beziehung. Der Austausch zwischen Haupt- und Ehrenamt bleibt oft formal – Resonanzräume entstehen, wenn überhaupt, durch persönliche Nähe, nicht durch institutionelle Ermöglichung.
Das ist kein atmosphärisches Problem – es ist ein strukturelles. Wo Resonanz fehlt, entsteht keine kollektive Verantwortung. Menschen folgen dann nicht der Sache, sondern der Anweisung. Und wenn die Anweisung fehlt oder widersprüchlich wird – wie es in Krisen häufig geschieht –, verstummt die Organisation. Rosa bringt es auf den Punkt: „Wo der Andere nicht mehr antwortet, verstummen wir.“
Für das THW heißt das: Wenn im Hauptamt keine Resonanzräume bestehen, fehlen im Ernstfall die Kräfte, die kollektives Handeln tragen. Das betrifft nicht nur einzelne Teams – es betrifft die institutionelle Architektur. Resonanzfähigkeit ist keine Frage des Stils – sie ist eine Frage der Gestaltung.
Vertrauen entsteht nicht von selbst – es ist das Ergebnis gelingender Kommunikation über Zeit.
Die gute Nachricht: Resonanz lässt sich gestalten. Dort, wo Kommunikation nicht nur funktional, sondern wechselseitig ist. Wo Teams nicht nur ausführen, sondern reflektieren. Wo Führung nicht bloß entscheidet, sondern aushandelt. Und wo Kritik nicht als Störung gilt, sondern als Beitrag.
Die folgende Schlussbetrachtung widmet sich deshalb einer zentralen Frage: Wie kann das THW seinen Alltag so gestalten, dass daraus tragfähige Brücken in den Krisenmodus entstehen – ohne dabei seine Substanz zu verlieren?
Wenn das Technische Hilfswerk seine Krisenfähigkeit nicht aus dem Ausnahmezustand, sondern aus dem Alltag schöpfen will – wie es die Studie von Lot und die Resonanztheorie von Rosa nahelegen –, genügt es nicht, Einsatzstrukturen zu optimieren. Gefragt ist eine bewusste Gestaltung des organisatorischen Alltags: im Hauptamt, an der Schnittstelle zum Ehrenamt, in Führungskultur und Kommunikation.
Was dafür notwendig ist, lässt sich entlang der drei von Lot identifizierten Artikulationsachsen systematisieren: organisatorisch, relational, managerial. Die folgenden Impulse sind keine Maßnahmenkataloge, sondern strategische Anstöße – und zeigen: Krisenfähigkeit ist keine Frage der Technik, sondern der Kultur.
Krisenfähigkeit beginnt dort, wo Routinen auf Bewegung vorbereitet sind.
Wer sich nicht gesehen fühlt, wird auch in der Krise nicht mitgehen.
Wer im Alltag nicht führen kann, wird in der Krise nur delegieren.
Stellenausschreibungen des Hauptamts folgen klassischer Verwaltungslogik: Sachbearbeitung, Ausbildung, Technik. Der Krisenbezug? Ein vager Satz am Rand: „Bereitschaft zur Mitarbeit im LuK.“ Doch eine krisenfähige Organisation braucht mehr als symbolische Hinweise.
Krisenverantwortung muss strukturell sichtbar sein. Das heißt: Jede hauptamtliche Stelle braucht künftig zwei Rollen – eine fachliche und eine krisenbezogene. Diese muss abgestimmt sein auf Qualifikation, Funktion und Verfügbarkeit – und darf nicht der Freiwilligkeit überlassen bleiben.
Wenn Krisenrolle nur im Kleingedruckten steht, wird Verantwortung zur Leerstelle.
Derzeit blendet das Personalgefüge den Ausnahmefall aus – obwohl genau dieser die Existenzgrundlage der Organisation darstellt. Das THW ist keine Fachbehörde mit Sonderaufgabe – es ist eine Katastrophenschutzorganisation mit Verwaltungsstruktur.
Diese Idee ist keine Revolution – sondern eine konsequente Präzisierung. Sie ist anschlussfähig an das Zielbild 2030, an den Kulturbericht und an den verfassungsrechtlichen Auftrag zum Bevölkerungsschutz. Wer Krisen ernst nimmt, muss nicht nur reagieren – sondern Strukturen bauen, die Reaktion ermöglichen.
Diese Überlegungen führen zu einer grundsätzlichen Frage: Welche Haltung zur eigenen Struktur braucht eine Verwaltung, die im Ernstfall Verantwortung übernehmen soll – ohne sich im Formalismus zu verlieren? Eine Organisation, die auf kollektive Verantwortung angewiesen ist, kann sich nicht auf individuelle Verwaltung reduzieren. Sie braucht Kultur – nicht als Anspruch, sondern als Praxis. Und die beginnt im Alltag – nicht im Alarmfall.
Im letzten Kapitel wird dieser Gedanke zugespitzt: als Plädoyer für eine Verwaltung, die ihren Rhythmus neu denkt.
Das THW ist mehr als Einsatzorganisation. Es ist Bundesbehörde, Arbeitgeber, Ausbildungsstätte, Infrastrukturbetreiber – und Alltagsverwaltung. Genau dieser Alltag aber bleibt in Debatten um Krisenfähigkeit oft unterbelichtet. Dabei zeigen die Studie von Lot und der THW-Kulturbericht klar: Krisenfähigkeit ist kein Ausnahmezustand – sie ist eine Möglichkeitsform des Alltags.
Sie entsteht nicht durch Pläne, sondern durch gelebte Beziehungen, geteilte Deutungen, eingeübte Rollen und institutionalisierte Reflexion. Fehlen diese, wird das Krisenhandeln zur Improvisation Einzelner. Wo sie hingegen vorhanden sind, entsteht eine belastbare Struktur – nicht durch Starrheit, sondern durch Lebendigkeit, Anschlussfähigkeit, Resonanz.
Zwischen Alltag und Alarmstufe liegt kein Bruch – sondern ein Rhythmus.
Diesen Rhythmus gilt es zu gestalten. Eine Verwaltung, die im Ernstfall Verantwortung übernehmen will, darf den Alltag nicht als statischen Regelbetrieb verstehen – sondern als Resonanzraum. Dazu gehört: Führung als Beziehung, Entscheidung als Aushandlung, Kritik als Ausdruck kollektiver Wachheit.
Der Soziologe Max Weber sah in der Bürokratie die Herrschaft durch Regeln. Doch was das THW braucht, ist mehr: eine Verwaltung, die nicht nur Regeln vollzieht, sondern Sinn vermittelt. Der Philosoph Antonio Gramsci würde sagen: eine Organisation, die nicht nur technisch funktioniert, sondern auch kulturell führt – das heißt: Führung als Gestaltung von Deutungsrahmen, Beziehung und Haltung versteht. Führungskräfte werden so zu Übersetzenden zwischen Struktur und Sinn, zwischen Alltag und Ausnahme.
Resonanz entsteht nicht durch neue Vorschriften – sondern durch neue Beziehungen zur Organisation selbst.
Dieses Plädoyer richtet sich nicht gegen bestehende Strukturen, sondern an ihren Auftrag: Der Alltag ist nicht Gegensatz zur Einsatzrealität – er ist ihre Voraussetzung. Kollektives Handeln entsteht nicht im Alarmfall, sondern im gelebten Miteinander davor. Dort, wo Menschen sich begegnen, sich austauschen, gemeinsam deuten – dort entsteht die Fähigkeit, im Ernstfall zusammenzuwirken. Die nächste Krise kommt bestimmt – doch wie gut wir ihr begegnen, entscheidet sich schon jetzt: im Alltag.
Dieser Fachbeitrag versteht sich als strukturierter Impuls zur Weiterentwicklung der Krisenfähigkeit im Hauptamt des THW. Er richtet sich an alle, die Verantwortung für Kultur, Struktur und Führung tragen – insbesondere in Referaten, Abteilungen und Stäben, aber auch in Fachgruppen, Personalvertretungen und OE-Projekten.
Die Perspektive ist bewusst mehrdimensional:
Der Beitrag kann z. B. genutzt werden zur Vorbereitung oder Vertiefung von Leitungskonferenzen und Workshops, als Impuls in Kulturentwicklungsgruppen, bei Klausurtagungen oder Fortbildungen, zur strategischen Reflexion in Change-Prozessen, Facharbeitsgemeinschaften oder bei Evaluationen.
Der Beitrag lädt ein, bestehende Routinen zu befragen, neue Resonanzräume zu schaffen – und das Verhältnis von Alltag und Ausnahme neu zu rhythmisieren. Er versteht sich dabei als Spiegel, Impulsgeber und Diskursanker für eine Verwaltung, die nicht nur funktioniert, sondern sich gemeinsam weiterentwickelt.
Krisenfähigkeit beginnt nicht im Krisenstab – sondern im Büroalltag. Dieser Beitrag zeigt, warum Verwaltungen wie das Technische Hilfswerk (THW) ihre kollektive Handlungsfähigkeit nicht allein aus Plänen und Strukturen beziehen, sondern aus der Qualität ihres gelebten Alltags. Gestützt auf Nicolas Lots Studie zu „extraordinary organizing“ und den THW-Kulturbericht analysiert der Text, wie Resonanz, Beziehung und Reflexion zur eigentlichen Infrastruktur einer krisenfesten Organisation werden.
Drei zentrale Praxisachsen stehen im Fokus:
Der Beitrag richtet sich an Führungskräfte, Strateg:innen und Kulturverantwortliche im THW – als Einladung, Verwaltung neu zu rhythmisieren: beziehungsstärker, resonanzfähiger, krisentauglicher.
Bourdieu, P. (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (Übers. von Schwibs, B. und Russer, A.). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Gramsci, A. (2021): Gefängnishefte: Herrschaft und Führung (1929–1935). In: Candeias, M. (Hg.): Klassentheorie. Vom Making und Remaking. Hamburg: Argument Verlag. S. 87–100.
Kaesler, D. (2014): Max Weber. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung. Frankfurt am Main: Campus.
Kindler, B.; Ronge, D.; Hernández Gómez, E. (2024): THW-Kultur. Projektabschlussbericht des Schwerpunktprojekts THW-Kultur. Hannover: THW-Landesverband Bremen, Niedersachsen. Stand: 18.11.2024. Internes Dokument der Projektgruppe THW-Kultur.
Lot, Nicolas (2025): Building on “normal crisis”: From daily organizing to extraordinary organizing through collective practices. In: Safety Science, Volume 191 (ISSN 0925-7535). Amsterdam: Elsevier. DOI: 10.1016/j.ssci.2025.106918.
Luhmann, N. (1987): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Kellerman, B. (2004): Bad Leadership. What It Is, How It Happens, Why It Matters. Boston: Harvard Business School Press.
Kellerman, B. (2008): Followership. How Followers Are Creating Change and Changing Leaders. Boston: Harvard Business School Press.
Rosa, H. (2019): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp.
Pereira Wolf, Heiko (2025): Krise zwischen Alltag und Alarmstufe. Eine Replik auf Nicolas Lot – und ein Impuls zur Weiterentwicklung im THW-Hauptamt. Online veröffentlicht am 21.07.2025 unter: https://www.pereirawolf.de/beitrag/2025-07-21-beitrag-1.html [Zugriff: TT.MM.JJJJ].
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