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Verwaltung in Verantwortung: Wie die öffentliche Hand strukturelle Gewalt erkennt und überwindet

Eine Replik auf Christian Neuhäuser aus Sicht einer verantwortungssensiblen Verwaltungspraxis

Publikation

Autor: Heiko Pereira Wolf

ORCID: 0009-0004-0014-7616

DOI: 10.5281/zenodo.15739251

Veröffentlichung: 26.06.2025

Stand: 26.06.2025

Strukturelle Gewalt betrifft auch die Verwaltung

Für Christian Neuhäuser ist Gewalt mehr als ein Schlag ins Gesicht. In seinem Interview mit dem Freitag erklärt der Dortmunder Philosoph, dass eine Ohrfeige nicht nur körperlich weh tut, sondern auch sozial erniedrigt – und dass wir Gewalt nur dann richtig verstehen, wenn wir auch diese Dimensionen mitdenken. Gewalt beginnt oft viel früher – subtil, strukturell, institutionell. Sie ist nicht immer sichtbar, aber spürbar: für Menschen, die im Jobcenter den Überblick verlieren, weil Briefe in Fremdsprache und Bürokratendeutsch ihr Leben diktieren. Für Menschen, die vor dem Sozialamt als Bittsteller:innen erscheinen. Für Menschen, die an staatlichen Türen klopfen – und nicht gehört werden.

Neuhäuser nennt diese Zustände „Gewalt der Ungleichheit“. Was er beschreibt, ist nicht nur ein philosophisches Problem. Es ist eine verwaltungspraktische Herausforderung. Und eine demokratiepolitische Zumutung.

Verwaltungen verstehen sich oft als neutral, sachlich, gesetzesgebunden. Das sind wichtige Tugenden – aber keine Immunisierung gegen Gewalt. Denn Gewalt, so Neuhäuser, ist mehr als das Zufügen körperlicher Schmerzen. Sie kann psychisch wirken, sozial entwürdigen, symbolisch entmenschlichen. Auch Verwaltungshandeln kann verletzen: durch Sprache, die Menschen nicht verstehen; durch Verfahren, die sie überfordern; durch Entscheidungen, die sie demütigen – und zwar gerade dann, wenn sie rechtmäßig sind, aber nicht gerecht wirken.

„Staatliche Gewalt ist auch, wenn jemand mit gerichtlichen Briefen übersät wird, die alle in einem Juristendeutsch verfasst sind, die diese Person kaum verstehen kann“, sagt Neuhäuser. Solche Sätze sind unbequem – gerade für Jurist:innen in der Verwaltung. Aber sie weisen auf einen wunden Punkt hin: Der Rechtsstaat muss nicht nur legal handeln, sondern auch legitim. Sonst verliert er seine Resonanz – und letztlich sein demokratisches Fundament.

Wenn Macht auf Machtlosigkeit trifft

Verwaltung ist immer auch Ausübung von Macht. Das allein ist noch keine Gewalt – aber Gewaltpotenzial ist immer da. Entscheidend ist, wie damit umgegangen wird. Wird Macht erklärt? Wird sie eingehegt? Wird sie kontextsensibel und menschenwürdig angewendet? Oder wird sie entpersonalisiert, ritualisiert, bürokratisiert?

Neuhäuser spricht vom Jobcenter als einem „kafkaesken Ort“. Wer dort unter Sanktionsdruck steht, könne irgendwann explodieren. Diese Aussage mag provozieren – aber sie verweist auf ein strukturelles Problem: Wenn Menschen keine Sprache, keine Ansprechpartner:innen, keinen Ausweg mehr finden, bleibt oft nur der Rückzug oder der Ausbruch. Beides ist keine Lösung – aber eine Reaktion auf ein System, das seine eigene Entfremdung nicht erkennt.

Repräsentation ist kein Nice-to-have

Neuhäuser fordert: mehr Arbeiter:innen in Parlamenten, mehr kulturelle Sichtbarkeit für marginalisierte Gruppen, mehr Teilhabe jenseits der Elitezirkel. Für die Verwaltung bedeutet das: Diversität ist nicht Dekoration. Sie ist demokratische Notwendigkeit. Eine Verwaltung, die Teilhabe sichern will, muss selbst teilhabeorientiert sein – in ihrer Personalpolitik, in ihrer Sprache, in ihrer Führungsstruktur.

Auch hier lauert strukturelle Gewalt – etwa wenn Personen mit Behinderung, mit Migrationsgeschichte oder mit nicht-akademischer Herkunft systematisch unterrepräsentiert sind. Wenn Vielfalt auf dem Papier steht, aber nicht im Alltag lebt. Wenn Inklusion eingefordert, aber nicht ermöglicht wird. Wer Teilhabe predigt, muss Zugang gestalten – nicht nur in Gebäuden, sondern in Köpfen.

Pflicht oder Haltung? Verwaltung im Zwiespalt

Was folgt daraus für die Praxis? Verwaltung ist kein neutraler Apparat. Sie ist Teil des gesellschaftlichen Resonanzsystems. Ihre Entscheidungen wirken – nicht nur rechtlich, sondern auch sozial und psychologisch. Wer im öffentlichen Dienst Verantwortung trägt, sollte sich deshalb nicht nur fragen, ob er recht hat – sondern auch, ob er gehört wird. Ob sein Handeln Anschluss findet. Ob es Menschen stärkt – oder sie strukturell schwächt.

Eine ethisch sensible Verwaltungskultur braucht mehr als Compliance und Diversity-Trainings. Sie braucht Haltung. Und sie braucht Führung, die diese Haltung vorlebt: hörend, lernbereit, menschenorientiert. Denn Verwaltung kann Schutzmacht sein – oder Systemverstärker. Sie kann Teil der Lösung sein – oder Teil des Problems. Sie kann Resonanz erzeugen – oder Gewalt reproduzieren.

Fünf Impulse für eine hörende Verwaltung

  1. Sprache als Machtmittel erkennen – und gezielt verständlich, respektvoll und zugänglich gestalten.

  2. Verfahren deeskalieren – indem sie nachvollziehbar, begleitend und partizipativ gestaltet werden.

  3. Repräsentanz stärken – nicht nur symbolisch, sondern strukturell und auf allen Ebenen.

  4. Resonanzräume schaffen – durch echtes Zuhören, Feedbackformate und dialogische Führung.

  5. Kritikfähigkeit institutionalisieren – durch Ombudsstellen, Fehlerfreundlichkeit und ethische Reflexionsräume.


Fazit: Verwaltung kann mehr, Verwaltung muss mehr

„Wer Gewalt mit Gewalt beantwortet, bestärkt oft genau jene Ordnung, gegen die er sich richtet“, sagt Neuhäuser. Das gilt auch umgekehrt: Wer strukturelle Gewalt erkennt und abbaut, stärkt die Ordnung, für die er steht – den demokratischen Rechtsstaat. Verwaltung muss sich dieser Verantwortung stellen. Nicht, weil es gesetzlich geboten ist – sondern weil es moralisch geboten ist. Und weil es unsere Demokratie sonst von innen aushöhlt.

Quellenverzeichnis

Boewe, J. (2025): Philosoph Christian Neuhäuser: „Ungleichheit kann auch eine Form von Gewalt sein“. Christian Neuhäuser im Gespräch mit Jörn Boewe. Online abrufbar unter: Link (Paywall) [Zugriff: 25.06.2025]

Neuhäuser, C. (2025): Gewalt der Ungleichheit. Würde und Widerstand: Plädoyer für mehr Gerechtigkeit und eine bessere Verteilung der Vermögen. Ditzingen: Reclam.

Zitiervorschlag

Pereira Wolf, Heiko (2025): Verwaltung in Verantwortung: Wie die öffentliche Hand strukturelle Gewalt erkennt und überwindet. Eine Replik auf Christian Neuhäuser aus Sicht einer verantwortungssensiblen Verwaltungspraxis. Online veröffentlicht am 26.06.2025 unter: https://www.pereirawolf.de/beitrag/2025-06-26-beitrag-1.html [Zugriff: TT.MM.JJJJ].

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