Profilbild von Heiko Pereira Wolf

Rechtsresonanz statt Rechtsgehorsam

Warum der demokratische Staat hörende Verwaltungen braucht

Publikation

Autor: Heiko Pereira Wolf

ORCID: 0009-0004-0014-7616

DOI: 10.5281/zenodo.15672836

Veröffentlichung: 17.06.2025

Stand: 17.06.2025

1. Gerichtsurteile als Irritation – und Anlass zur Resonanz?

Wenn ein Mitglied der Bundesregierung öffentlich erklärt, verwaltungsgerichtliche Entscheidungen nicht zum Anlass zu nehmen, eine rechtswidrige Praxis zu beenden, ist der Widerspruch nicht nur politisch, sondern grundsätzlicher Natur. Im Juni 2025 wurde ein solcher Fall öffentlich: Die zuständige Bundesbehörde bekräftigte – mit Rückendeckung aus dem Kanzleramt –, dass Asylsuchende an den deutschen Grenzen weiterhin auf Grundlage einer ministeriellen Weisung zurückgewiesen würden. Dies geschah, obwohl das zuständige Verwaltungsgericht in mehreren Fällen festgestellt hatte, dass solche Zurückweisungen gegen Unionsrecht verstoßen. Der Vorwurf des „exekutiven Ungehorsams“ stand im Raum – doch was steht tatsächlich auf dem Spiel?

Der Jurist Till Patrik Holterhus hat die rechtliche Konstellation differenziert eingeordnet: Zwar entfalte die gerichtliche Entscheidung im Eilverfahren nur Bindungswirkung für den konkreten Einzelfall. Doch eine Verwaltung, die – ungeachtet mehrfacher ähnlicher Entscheidungen – unbeirrt an ihrer Praxis festhält, handele mit zunehmender Wahrscheinlichkeit strukturell rechtsstaatswidrig. Die eigentliche Frage lautet also: Was schuldet die Verwaltung dem Recht – über das rechtlich gerade noch Zulässige hinaus?

Verwaltungshandeln ist nie bloß „gesetzlich erlaubt“ oder „rechtswidrig“. Es ist immer auch eingebettet in ein kulturelles Verhältnis zu Recht, Gericht und Gesellschaft. Wer sich darin nur als exekutives Vollzugsorgan versteht, verfehlt die eigene Rolle. Denn der demokratische Rechtsstaat lebt nicht nur von Gewaltenteilung und Kontrolle, sondern auch von einer Haltung gegenüber dem Recht. Diese Haltung zeigt sich besonders dann, wenn das Recht – etwa in Form eines Gerichtsentscheids – dem politischen Willen oder der administrativen Routine zuwiderläuft.

Gerichtsurteile stellen eine Zäsur dar – sie unterbrechen gewohnte Routinen und fordern ein Innehalten. Doch wie eine Verwaltung auf solche Unterbrechungen reagiert, offenbart ihren rechtsstaatlichen Charakter: Vollzieht sie mechanisch, weil sie es muss? Oder hört sie hin, weil sie es will? Erkennt sie im Urteil ein Störsignal – oder ein legitimes Gegenüber?

Eine redliche Verwaltung ist nicht nur rechtlich gebunden, sondern auch resonanzfähig. Sie antwortet auf gerichtliche Entscheidungen nicht bloß mit Aktenvollzug, sondern mit Aufmerksamkeit, Reflexion und – wo nötig – mit Veränderung.

Gerichtsurteile irritieren nicht die Ordnung – sie verweisen auf ihre normativen Voraussetzungen. Eine resonanzfähige Verwaltung begegnet ihnen nicht mit Abwehr, sondern mit Anerkennung. Sie nimmt die Rückmeldung ernst, bevor sie entscheidet. Wer Verwaltung als tragende Säule des demokratischen Rechtsstaats versteht, muss deshalb über das bloß rechtlich Zulässige hinausdenken – hin zu einer Kultur des Hörens und Verstehens. Was das bedeutet, wie es sich von bloßer Rechtsbindung unterscheidet und welche institutionellen Konsequenzen sich daraus ergeben, ist Gegenstand der folgenden Kapitel.

2. Von Rechtstreue zu Rechtsresonanz: Verwaltung neu denken

Die Vorstellung, Verwaltung sei bloß exekutiv tätig, greift zu kurz – rechtlich wie empirisch. Zwar gehört die Pflicht zur Beachtung von Gesetz und Recht – die sogenannte Rechtstreue – zur Grundausstattung des öffentlichen Dienstes; sie ist fest verankert in Ausbildungen, Beamtenverhältnissen und Dienstanweisungen. Doch diese formale Bindung genügt nicht, um einen lebendigen Rechtsstaat zu tragen. Rechtstreue ist mehr als Legalismus: Sie verlangt Urteilskraft, Kontextbewusstsein und institutionelle Verantwortung. Eine Verwaltung, die Normen nur abarbeitet, ohne sich irritieren zu lassen, bleibt in einer Haltung stecken, die weder antwortet noch lernt – und damit ihrem demokratischen Auftrag nicht gerecht wird.

Till Patrik Holterhus macht in seiner Analyse deutlich, dass exekutiver Ungehorsam im engeren Sinne – also die offene Missachtung konkreter Gerichtsentscheidungen – zwar selten ist, aber nicht der einzige Maßstab für rechtsstaatliche Defizite sein darf. Weitaus gravierender sind jene Konstellationen, in denen eine Verwaltung bewusst an einer Praxis festhält, obwohl sich eine Rechtsprechungslinie herausbildet, die dieser Praxis widerspricht. Wenn politisch Verantwortliche und administrative Spitzen trotz wachsender rechtlicher Klarheit an rechtswidrigen Routinen festhalten, geschieht der Rechtsbruch nicht im Affekt – sondern mit Ansage.

Doch auch wer sich formal korrekt verhält, kann sich rechtskulturell verschließen – etwa wenn gerichtliche Irritationen nur als technische Korrekturen gelesen werden. Diese verkürzte Sicht verfehlt die rechtsstaatliche Beziehung, die im ersten Kapitel als Leitidee skizziert wurde.

Wer gerichtliche Rückmeldungen auf ihre Bindungswirkung im Einzelfall reduziert, blendet strukturelle Lernprozesse aus. Das mag formal genügen, rechtskulturell jedoch bleibt es stumm. Eine Verwaltung, die sich hinter der Rechtskraft verschanzt, antwortet nicht auf den normativen Kontext ihres Handelns. Sie agiert gesetzeskonform – aber ohne Haltung. Sie folgt dem Urteil – aber sie verhandelt es nicht innerlich.

Sie erfüllt das Recht, aber sie verkörpert es nicht. Sie vollzieht Urteile, aber sie versteht sie nicht.

Was in solchen Situationen fehlt, ist Resonanzfähigkeit – jener Modus, in dem Verwaltung nicht nur reagiert, sondern antwortet. Die Soziologie beschreibt damit eine Beziehung, die offen ist für Rückkopplung, berührbar bleibt und zum Wandel fähig ist. Rechtsresonanz meint daher mehr als Gehorsam: Sie beschreibt ein aktives Verhältnis zum Recht – getragen von Wachheit, Verantwortung und Veränderungsbereitschaft. Wo Loyalität zur Abwehr von Kritik wird, verliert Verwaltung ihre innere Orientierung. Kritik ist kein Angriff – sondern ein Prüfstein institutioneller Reife.

Rechtsresonanz meint die Fähigkeit einer Verwaltung, auf rechtliche Rückmeldungen zu hören, ohne sich gleich entmachtet zu fühlen – und auf juristische Irritationen zu antworten, ohne in Abwehr zu verfallen. Diese Haltung ist nicht weich oder beliebig. Im Gegenteil: Sie verlangt mehr – mehr Urteilskraft, mehr Kontextwissen, mehr Verantwortung. Und sie ist der Grundstein einer demokratischen Verwaltungskultur, die weder bloß gehorcht noch regiert, sondern vermittelt.

Ein solcher Begriff von Verwaltung geht über den Legalitätsgrundsatz hinaus, ohne ihn aufzugeben. Er ergänzt ihn um eine ethisch-kulturelle Dimension, die besonders dort zum Tragen kommt, wo Recht umstritten, offen oder neu zu interpretieren ist. In diesen Zonen demokratischer Ungewissheit zeigt sich, ob Verwaltung das Recht nur anwendet – oder ob sie es auch trägt.

Eine rechtsresonante Verwaltung ergänzt den Legalitätsgrundsatz durch Haltung. Sie wird dort unverzichtbar, wo das Recht nicht eindeutig ist – sondern dialogisch, strittig oder offen. Rechtsresonanz ist keine Wunschvorstellung, sondern eine demokratische Notwendigkeit.

Die folgende Analyse wird zeigen, dass Verwaltung in ihrer historischen und organisatorischen Struktur durchaus in der Lage ist, rechtskulturelle Verantwortung zu übernehmen – wenn sie es will. Voraussetzung dafür ist, dass sie sich nicht nur als Instrument politischer Steuerung begreift, sondern als Träger einer Resonanzfähigkeit, die rechtliche Bindung nicht nur anerkennt, sondern mit Leben füllt.

3. Zwischen Politik, Recht und Fachlogik – Verwaltung als normativer Akteur

Verwaltung ist nicht nur ein Übertragungsmechanismus politischer Entscheidungen, sondern ein rechtsgestaltender Akteur. Ihre Entscheidungen beruhen auf normativen Abwägungen, organisatorischen Routinen und einer eigenständigen Fachlogik. Wer Verwaltung als reine Ausführungsinstanz versteht, verkennt ihre Rolle im demokratischen Staat. Sie ist rechtlich gebunden – aber nie bloß determiniert. Jede Anwendung von Recht verlangt Interpretation, Abwägung, Auswahl. Und jede politische Weisung stößt auf Organisationen, die sich nicht beliebig steuern lassen, sondern über ihre eigene Rationalität verfügen – geprägt durch Fachwissen, Ressourcen, Rechtsbewusstsein und Binnenkultur. Dieses Spannungsdreieck zwischen Politik, Recht und Verwaltung ist produktiv, aber konflikthaft.

Im Zuge von New Public Management wurde versucht, diese Konflikte durch Zielorientierung und Output-Steuerung zu entschärfen. Doch was als Effizienzgewinn verkauft wurde, hatte auch eine entpolitisierende und entrechtlichende Nebenwirkung. Wenn Erfolg primär an Zahlen, Tabellen und quantifizierbaren „Leistungen“ gemessen wird, geraten andere Formen der Rechenschaft aus dem Blick – insbesondere die Rechenschaft gegenüber Recht und Öffentlichkeit. Die Folgen zeigen sich dort, wo Verwaltung sich an politisch gesetzten Zielen orientiert, ohne diese mit der geltenden Rechtsprechung abzugleichen.

Hier entsteht ein gefährlicher Drift: Je mehr Verwaltung sich als loyale Vollzugsinstanz politischer Zielsetzung versteht, desto weniger bleibt Raum für kritische Selbstreflexion und rechtskulturelle Sensibilität. Die Rückbindung an das Recht verengt sich zur Vermeidung von Verfahrensfehlern – statt sich als kontinuierliche Auseinandersetzung mit normativen Grundlagen zu entfalten.

Verwaltung gerät in die Haltung des Verfügbarmachens: Recht wird zur Ressource, die dem Zielerreichungswillen untergeordnet wird.

Doch gerade in dieser Haltung wird der Rechtsstaat fragil. Denn eine Verwaltung, die gerichtliche Rückmeldungen nur als Störungen ihrer Steuerungslogik empfindet, verliert ihre Fähigkeit zur Korrektur. Sie hört nicht mehr hin. Sie vollzieht, aber sie versteht nicht. Sie funktioniert – aber sie verantwortet nicht mehr.

Deshalb braucht es eine andere Perspektive auf Verwaltung: als Akteurin, die ihre Spannungsverhältnisse nicht nur aushält, sondern aktiv bearbeitet. Die ihre Fachlogik nicht gegen das Recht verteidigt, sondern mit ihm in Dialog bringt. Und die politische Weisungen nicht blind umsetzt, sondern rechtsstaatlich reflektiert.

Das Spannungsverhältnis von Politik, Recht und Verwaltung ist kein Störfall, sondern ein Resonanzraum. Verwaltung ist dort demokratisch handlungsfähig, wo sie in der Lage ist, Spannungen zu artikulieren – nicht um sie aufzulösen, sondern um mit ihnen zu arbeiten. Dazu braucht es nicht nur rechtliches Wissen, sondern auch organisatorische Urteilskraft, reflexive Professionalität und den Mut zur Irritation.

Diese Spannungen eröffnen nicht nur Konflikte, sondern Potenziale. Denn wo Verwaltung sich nicht als Kontrollinstanz, sondern als Beziehungspunkt zwischen Recht und Gesellschaft versteht, entsteht Raum für ein anderes Verständnis von Rechtsbindung: Resonanz.

4. Rechtsresonanz als Leitidee – eine neue Kultur des Verwaltungshandelns

Die Soziologie Hartmut Rosas hat dem modernen Beschleunigungszeitalter einen Begriff entgegengesetzt, der weit über den philosophischen Diskurs hinausweist: Resonanz. Gemeint ist damit eine Beziehung zur Welt, die nicht von Kontrolle, Beherrschung oder Verfügbarmachung geprägt ist, sondern von wechselseitigem Hören und Antworten. Eine resonante Beziehung ist kein bloßes Reagieren – sondern ein Sich-Berühren-Lassen und ein antwortendes Handeln, das offen bleibt für Transformation. Resonanz ist ein Modus der Weltaneignung, der das Gegenüber nicht verschlingt, sondern anerkennt.

Überträgt man dieses Verständnis auf die rechtsstaatliche Verwaltung, ergibt sich eine Perspektive, die überraschend aktuell ist. Denn die öffentliche Verwaltung sieht sich heute vielfältigen Rückmeldungen ausgesetzt: gerichtlichen Entscheidungen, politischen Weisungen, gesellschaftlicher Kritik, wissenschaftlichen Empfehlungen. Doch wie sie auf diese Impulse reagiert – mit Abwehr oder mit Annahme, mit Gehorsam oder mit Urteilskraft – ist eine offene Frage. Genau hier liegt das Potenzial einer resonanztheoretisch fundierten Verwaltungskultur.

Eine resonanzfähige Verwaltung ist keine schwache Verwaltung. Sie duckt sich nicht weg und verliert sich nicht in Beliebigkeit. Im Gegenteil: Sie erkennt die eigene Rolle als Mittlerin zwischen Norm und Wirklichkeit, zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Politik und Recht. Sie begreift gerichtliche Entscheidungen nicht als Störung ihres Betriebs, sondern als legitime Herausforderung an ihre Ordnungspraxis. Sie lässt sich irritieren – und sie antwortet.

Gerade die Rezeption von Gerichtsurteilen zeigt, wie resonanzfähig Verwaltung tatsächlich ist. Wie bereits im ersten Kapitel angedeutet, geht es nicht nur um Befolgung, sondern um das Verhältnis: Wird die rechtliche Rückmeldung gehört, anerkannt, übersetzt – oder mechanisch abgearbeitet?

Diese Transformation ist nicht identisch mit Nachgiebigkeit. Sie bedeutet vielmehr, Verwaltungshandeln so zu gestalten, dass es offen bleibt für normative Irritationen, lern- und veränderungsfähig bleibt – ohne sich seiner eigenen Legitimation zu entledigen. Es geht um die Fähigkeit, institutionell zu antworten, nicht nur zu funktionieren.

Hartmut Rosa spricht in diesem Zusammenhang von der Gefahr der „Resonanzverweigerung“ als Signatur spätmoderner Entfremdung. Auch Verwaltung kann in diesen Modus verfallen: wenn sie Urteile nur formalisiert abarbeitet, Widerspruch als Angriff liest und interne Abweichung sanktioniert. Der Resonanzverlust schlägt dann um in rechtsstaatliche Taubheit. Der Rechtsstaat wird nicht zerstört, aber ausgehöhlt.

Wo Verwaltung nicht mehr hört, wird sie blind. Wo sie nicht mehr antwortet, wird sie stumm. Und wo sie nicht mehr irritiert werden kann, verliert sie ihre demokratische Würde.

Demgegenüber braucht es hörende Strukturen in der Verwaltung: Gelegenheiten zur Reflexion, institutionalisierte Debatten über Gerichtsentscheidungen, eine Führungskultur, die Zweifel nicht bestraft, sondern ernst nimmt. Resonanz entsteht nicht von selbst – sie muss ermöglicht werden. Und sie ist kein individueller Luxus, sondern eine strukturelle Notwendigkeit in einem demokratischen Staat, der sich seiner selbst bewusst bleiben will. Resonanz bleibt abstrakt, wenn sie nicht institutionell verankert wird. Was braucht eine Verwaltung, um resonanzfähig zu sein?

5. Strukturen, die Resonanz ermöglichen – Institutionelle Voraussetzungen

Resonanz entsteht nicht automatisch – und sie ist auch nicht nur eine Frage individueller Haltung. Sie braucht Strukturen, die sie ermöglichen, und Menschen, die sie annehmen. Denn Resonanz ist ein Wechselspiel: zwischen Organisation und Selbstverständnis, zwischen Ermöglichung und Aneignung, zwischen institutioneller Offenheit und persönlicher Urteilskraft. Rechtsstaatlichkeit wird so nicht nur garantiert, sondern gelebt.

Reflexionsfähigkeit: Verwaltungskultur beginnt mit Selbstprüfung

Reflexionsfähigkeit zeigt sich nicht im Rückzug auf abstrakte Prinzipien, sondern im konkreten Umgang mit Unsicherheit. Etwa dann, wenn eine Dienststelle nach einem Gerichtsurteil die eigenen Routinen überprüft – nicht um Schuldige zu finden, sondern um aus dem Verfahren zu lernen. Diese Kultur der Selbstbefragung lässt sich institutionalisieren: durch Fallbesprechungen, Ethikforen oder regelmäßige Rückblicke auf Entscheidungen in Leitungskonferenzen. Auch Fortbildungen zu Grundrechten und staatlicher Verantwortung können Resonanz stiften – vorausgesetzt, sie laden zum Mitdenken ein und bleiben nicht bei Pflichtstunden stehen.

Verwaltung kann nur dann resonanzfähig sein, wenn sie das Recht nicht bloß befolgt, sondern bespricht.

Fehlerfreundlichkeit und institutionelle Selbstkorrektur

Wo Resonanz gewollt ist, braucht es Räume für Unsicherheit. Doch viele Verwaltungen sind auf Störungsfreiheit getrimmt: Fehler gelten als Risiko, nicht als Erkenntnisquelle. Dabei ist gerade der rechtliche Konflikt – etwa in Form von Urteilen, Remonstrationen oder Dienstaufsichtsbeschwerden – eine Chance zur institutionellen Justierung. Resonanzkultur bedeutet hier: Fehler nicht zu verbergen oder abzuwehren, sondern zum Anlass von Klärung und Verbesserung zu machen. Das setzt eine Führung voraus, die mit Abweichung umgehen kann – und sie nicht sanktioniert, sondern integriert.

Wo Abweichung als Illoyalität gilt, ist Resonanz unmöglich.

Führung mit Rückbindung: Rechtsresonanz in Leitbildern und Zielen

Verwaltung wird zunehmend über Ziele, Wirkungsindikatoren und Führungsinstrumente gesteuert. Genau dort kann Resonanzfähigkeit verankert werden – nicht als weiches Leitbild, sondern als steuerungsrelevante Qualität. Das beginnt bei der Formulierung von Führungsgrundsätzen („Wir hören auf Gerichtsurteile – auch wenn sie unbequem sind.“), reicht über Zielvereinbarungen („Rechtsprechungsanalysen werden jährlich ausgewertet.“) bis hin zu Feedbacksystemen, in denen auch Grundrechtsperspektiven und externe Kritik systematisch berücksichtigt werden. Rechtsbindung ist damit nicht nur Pflicht, sondern Teil der professionellen Exzellenz. Eine Organisation, die sich selbst ernst nimmt, misst sich nicht nur an Effizienz – sondern an ihrer Fähigkeit, Irritation in Entwicklung zu übersetzen.

Kulturbildung: Organisatorische Resonanzräume schaffen

Schließlich braucht es Formate, die resonanzfähige Praxis nicht nur fordern, sondern ermöglichen. Dazu zählen verwaltungsinterne Dialogräume mit Gerichten, Betroffenenvertretungen und Wissenschaft ebenso wie Erfahrungswerkstätten nach Konfliktfällen – etwa im Anschluss an verlorene Gerichtsverfahren. Auch eine Remonstrationskultur, die nicht als Störung, sondern als demokratische Ressource verstanden wird, gehört dazu. Ebenso wichtig sind Wirkungsdialoge zu besonders grundrechtssensiblen Verwaltungsvorgängen, in denen die Folgen administrativer Entscheidungen gemeinsam reflektiert werden können. Solche Resonanzräume sind keine Nebenschauplätze, sondern das institutionelle Rückgrat eines demokratischen Rechtsstaats, der nicht nur reagiert, sondern antwortet.

6. Verwaltungsethos im Wandel – Resonanz braucht Haltung

Auch die besten Strukturen bleiben leer, wenn sie nicht mit Haltung gefüllt werden. Resonanz zeigt sich nicht im Organigramm, sondern im Verhalten: wenn eine Sachbearbeiterin begründeten Zweifel äußert – und ihre Teamleitung zuhört, statt abzuwiegeln. Wenn eine Referatsleitung eine Remonstration ernst nimmt – nicht als Widerstand, sondern als Resonanzangebot. Genau in solchen Situationen entscheidet sich, ob Resonanz nur auf dem Papier steht – oder gelebt wird. Verwaltungskultur zeigt sich nicht in Leitbildern, sondern in der Art, wie mit Dissens umgegangen wird.

Verantwortung zeigen – jenseits von Gehorsamslogik

Max Weber unterschied zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik – zwischen dem idealistischen Festhalten an Prinzipien und dem nüchternen Abwägen konkreter Folgen. Eine resonanzfähige Verwaltung braucht beides: Prinzipientreue und Folgenbewusstsein. Doch in einer Praxis, die oft von politischer Loyalität und Angst vor Karriereeinbußen geprägt ist, droht ein Rückfall in eine Gehorsamslogik, die weder reflexiv noch verantwortungsvoll ist.

Gerade auf mittlerer und oberer Führungsebene besteht die Gefahr, dass dienstliches Verhalten an opportunistischen Maßstäben ausgerichtet wird: Was erwartet die Hausleitung? Was gewährleistet möglichst wenig Reibung im Alltagsbetrieb? Was bringt die größte Ruhe? In dieser Logik wird nicht gefragt: Was ist rechtlich geboten oder demokratisch sinnvoll? Sondern: Was wird als loyal angesehen? Rechtsstaatlichkeit verlangt kein Heldentum – aber Charakter.

Remonstration als demokratischer Reflex

Die Remonstrationspflicht (§ 63 BBG, § 36 BeamtStG) ist nicht bloß ein formaler Rechtsbehelf, sondern ein ethischer Prüfstein. Sie bringt zum Ausdruck, dass Beamt:innen nicht nur Befehlsempfänger:innen, sondern Mitverantwortliche sind. Doch sie wird selten genutzt – und noch seltener gewürdigt. In vielen Dienststellen herrscht ein Klima der Schweigsamkeit: Wer remonstriert, gilt als unbequem. Wer loyal vollzieht, als verlässlich.

Eine resonanzfähige Verwaltungskultur muss dieses Verhältnis umkehren: Widerspruch darf kein Karriererisiko sein, sondern muss als Indikator institutioneller Selbstachtung gelten. Die Stärke einer Organisation zeigt sich nicht in der Einheit der Meinung, sondern in ihrer Fähigkeit, begründete Abweichung zu verarbeiten. Kritik ist kein Angriff – sondern ein Prüfstein institutioneller Reife.

Eine Verwaltung, die auf Loyalität setzt und Kritik für Illoyalität hält, verliert ihren Kompass.

Mut zur Irritation – auch in der Führung

Verantwortungsvolle Führung in der Verwaltung beginnt nicht beim Berichtswesen, sondern bei der Haltung. Wer resonant führen will, muss bereit sein, sich selbst irritieren zu lassen: durch Untergebene, durch Betroffene, durch Gerichte. Das verlangt mehr als Management – es verlangt Integrität. Führung muss hier nicht nur Orientierung geben, sondern Spielräume eröffnen: für Reflexion, für Abweichung, für Antwortfähigkeit.

Ein solcher Führungsstil stellt das klassische Ideal des „ruhigen Hauses“ infrage. Denn ein rechtsstaatlich lebendiges Haus ist nie ganz ruhig. Es fragt nach, es zweifelt, es justiert. Es wird von Urteilen nicht aus dem Gleichgewicht gebracht – sondern durch sie in Bewegung gehalten. Führung ist dann resonanzfähig, wenn sie Kontrolle nicht mit Autorität verwechselt.

7. Ausblick: Demokratisch hörende Verwaltung – Vision und Auftrag

Der demokratische Rechtsstaat ist mehr als ein System institutioneller Gewaltenteilung und juristischer Verfahren. Er ist eine kulturelle Praxis, die vom inneren Verhältnis ihrer Akteur:innen zum Recht lebt. Verwaltung, als zentrales Organ staatlichen Handelns, steht dabei in einer Schlüsselposition. Sie vermittelt zwischen Norm und Wirklichkeit, zwischen politischer Steuerung und rechtlicher Bindung, zwischen Staatsapparat und Gesellschaft. Wie sie auf Rückmeldungen reagiert – insbesondere auf gerichtliche Entscheidungen – entscheidet maßgeblich über die Qualität unseres demokratischen Gemeinwesens.

Eine Verwaltung, die sich gegen Irritation abschottet, die gerichtliche Rückmeldungen als Störung empfindet, die innerorganisatorischen Widerspruch unterdrückt, gefährdet nicht nur die Legalität, sondern die Legitimität ihres Handelns. Sie wird funktionsfähig – aber demokratieschwach. Resonanzverweigerung ist in diesem Sinne keine bloße Kommunikationsstörung, sondern ein Verfassungsproblem.

Demgegenüber braucht es eine Verwaltung, die nicht reflexhaft handelt oder taktisch schweigend, sondern auf richterliche Rückmeldungen mit Aufmerksamkeit und Urteilskraft reagiert. Die nicht reflexhaft an politischen Weisungen festhält, sondern rechtsstaatlich abwägt. Eine solche Verwaltung ist keine Idealvorstellung, sondern eine zumutbare Realität – wenn die strukturellen, kulturellen und personellen Voraussetzungen stimmen. Um den Weg dahin zu ebnen, lassen sich folgende konkrete Maßnahmen anregen:

Die Zukunft des Rechtsstaats hängt nicht allein vom Bundesverfassungsgericht ab – sondern von der Haltung derer, die ihn täglich praktizieren.

Diese Haltung lässt sich nicht per Gesetz vorschreiben, aber sie lässt sich ermöglichen – durch Strukturen, durch Kultur, durch Führung. Eine resonanzfähige Verwaltung ist keine Schwäche, sondern eine Stärke des demokratischen Staates. Sie ist nicht der Preis pluralistischer Offenheit, sondern ihre Voraussetzung.

Rechtsstaatliche Verwaltung bedeutet nicht nur Rechtstreue – sondern Rechtsresonanz. Wer das ernst nimmt, macht den Rechtsstaat nicht nur rechtlich stabil – sondern lebendig.

tl;dr

Gerichtsurteile sind keine bloßen Korrekturen – sie sind rechtliche Rückmeldungen, auf die Verwaltung antworten muss. Dieser Beitrag plädiert für ein neues Verständnis von Verwaltungshandeln im demokratischen Staat: nicht als mechanische Befolgung, sondern als Rechtsresonanz.

Statt bloß rechtstreu zu sein, sollte Verwaltung resonanzfähig werden – offen für Irritation, dialogbereit gegenüber Gerichten und verantwortungsvoll im Umgang mit rechtlicher Ambiguität. Gestützt auf Till Patrik Holterhus’ rechtsstaatliche Argumentation und Hartmut Rosas Soziologie der Resonanz zeigt der Beitrag: Verwaltung ist kein reines Vollzugsorgan, sondern ein normativ gebundener Akteur.

Rechtsresonanz verlangt institutionelle Voraussetzungen – Reflexionsräume, Fehlerfreundlichkeit, Führungsleitbilder, Remonstrationsschutz – und ein neues Verwaltungsethos, das Kritik nicht als Illoyalität, sondern als demokratische Stärke begreift.

Rechtsresonanz ist kein Ideal, sondern ein demokratisches Gebot – und Voraussetzung eines lebendigen Rechtsstaats.

Quellenverzeichnis

Holterhus, T. P.; Zillessen, F. (2025): Der Rechtsstaat ist auf eine redliche Verwaltung angewiesen. Fünf Fragen an Till Patrik Holterhus. In: Verfassungsblog vom 06.06.2025. Online abrufbar unter: Link [Zugriff: 09.06.2025]

Kaesler, D. (2014): Max Weber. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung. Frankfurt am Main: Campus.

Rosa, H. (2019): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp.

Zitiervorschlag

Pereira Wolf, Heiko (2025): Rechtsresonanz statt Rechtsgehorsam. Warum der demokratische Staat hörende Verwaltungen braucht. Online veröffentlicht am 17.06.2025 unter: https://www.pereirawolf.de/beitrag/2025-06-17-beitrag-1.html [Zugriff: TT.MM.JJJJ].

Nutzungshinweise

Dieser Beitrag ist dauerhaft online frei zugänglich. Die wissenschaftliche Nutzung, das Zitieren sowie die nichtkommerzielle Weitergabe im Rahmen von Lehre, Forschung und Verwaltung sind ausdrücklich gestattet.

Eine kommerzielle oder redaktionelle Nutzung außerhalb des Geltungsbereichs der Lizenz bedarf der vorherigen Zustimmung des Autors.

Dieser Beitrag steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung – Nicht-kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International (CC BY-NC-ND 4.0) .

Der Beitrag ist auch als PDF-Version verfügbar.

Index

Impressum